Bei einem Arbeitsaufenthalt in Miltenberg am Main vom 17. bis 21. Juli 2018 entstand nebenbei eine fotografische Studie zum Thema Fachwerk. Das historische Miltenberg ist nicht nur eine Stadt des roten Buntsandsteins (Siehe Report 12/2018), sondern auch ein Fachwerk-Panorama. Im Mittelalter bestand die Stadt ausschließlich aus Fachwerkhäusern, ausgenommen die öffentlichen Gebäude und die Stadtbefestigung. Viele dieser Häuser haben sich erhalten. Manche gehen bis auf das frühe 14. Jahrhundert zurück.
Zunächst fällt der physiognomische Aspekt ins Auge. Fachwerk gibt dem Haus ein individuelles Gesicht, ein Antlitz. Die Fachwerk-Konstruktion liefert ein reiches Ensemble von „Gesichtszügen“.
Der malerische Aspekt zeigt Fachwerk als eine imaginäre Erscheinung. So kann Fachwerk eine ergiebige Quelle malerischer Werte sein. Fachwerk trägt Farbe. Fachwerk reagiert auf visuelle Einflüsse von außen, auf die Umgebung und auf das Licht.
Der grafische Aspekt zeigt Fachwerk als Linien-Komposition. Statische und ästhetische Kriterien verbinden sich. Wir nehmen eine beabsichtigte Ästhetik wahr, die sich in Zierwerk äußert, ebenso aber auch eine unbeabsichtigte Ästhetik, die sich allein aus dem tektonischen Moment, aus der Funktion ableitet.
Der skulpturale Aspekt zeigt Fachwerk als Form und Masse. Ein Haus ist ein dreidimensionales Gebilde. Deshalb wird dessen Konstruktion immer von drei Dimensionen bestimmt. Fachwerk funktioniert nur dann, wenn es die dritte Dimension beherrscht. Insofern ist Fachwerk ein Objekt im Raum.
Der koloristische Aspekt zeigt Fachwerk als Farbträger. Noch vor fünfzig Jahren wies das Fachwerk in unseren historischen Städten eine einheitliche Farbgebung auf. Das beruhte auf der Tradition des herkömmlichen Ochsenblut-Anstrichs, der von dunkelbrauner Ölfarbe, dem typischen Fachwerk-Braun abgelöst wurde. Heute werden unterschiedliche Farbtöne eingesetzt, so dass zur Individualität der Form die Individualität der Farbe kommt.
Der architektonische Aspekt zeigt Fachwerk als eine urbane Raumfunktion. Fachwerk bietet dem Menschen geschützten Innenraum und ebenso einen lebenswerten Außenraum. Fachwerkhäuser greifen aufgrund ihrer besonderen Konstruktion anders in den Raum, als Gebäude aus Stein oder Beton.
Der fotografische Aspekt zeigt Fachwerk als eine Erscheinung der Wirklichkeit. Die Ästhetik des Zufälligen, des Tageslichts, des Umfeldes, ebenso wie die Bildmittel der Perspektive und des Bildausschnitts tragen zur Bildwirkung bei. Hinzu kommt der materielle Oberflächenreiz, das Erlebnis des Haptischen.
Der epische Aspekt zeigt Fachwerk als erlebte und erlebbare Vielfalt. Im dieser Vielfalt kann sich das Auge verlieren. Schon das einzelne Fachwerkhaus bietet eine vielgestaltige Erscheinung, umso mehr ein Ensemble mehrerer Fachwerkhäuser.
Der pittoreske Aspekt zeigt Fachwerk als einen Topos vorgeprägter Wahrnehmung. Die Stichworte reichen von Tradition bis zu Romantik. Wir sind überfüttert mit den Motiven der Tourismus-Industrie, und zugleich ist unser Blick so einjustiert, dass wir dem Fachwerk in der Wirklichkeit spontan pittoreske Reize entnehmen.