Bei einem Arbeitsaufenthalt vom 3. bis 8. Juli 2017 in Hildesheim entstanden als Nebenprodukt Fotografien, die das Konzept der peinture trouvée fortsetzen. Während bei früheren Gelegenheiten (Siehe Report 07/2017 und 09/2017) die Motivwahl völlig offen blieb und nur auf die Inspiration des Augenblicks reagierte, gab es hier einen vorgegebenen Motivkreis. Fotografie hat immer einen Ortsbezug im Sinn des Hier und Jetzt. In diesem Fall wurde der Ortsbezug verstärkt durch die Konzentration auf das, was Hildesheim außergewöhnlich und reich macht: die romanische Baukunst. Von der ottonischen Michaeliskirche über die Kreuzkirche und den Dom bis hin zur spätromanischen Godehardikirche bietet Hildesheim das bekannte Ensemble der Romanik. Es ging bei der peinture trouvée, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, nicht um eine Bestandsaufnahme der romanischen Formensprache, sondern um das Ausloten der Aura romanischer Sakralbauten. Es ging nicht um Abbildungen sondern um Bilder.
Exkurs über das romanische Kapitell
Die Gliederung der Säule in Basis, Schaft und Kapitell ist ein Erbe der Antike. Wir sehen in der abendländischen Baukunst ein stilübergreifendes Festhalten an dieser Ordnung. So ist die Säule auch metaphorisch zu einer „Säule“ unserer Bautradition geworden. Die Romanik steuert zu dieser Entwicklung einen einzigartigen Impuls bei. Das Würfelkapitell ist neben dem Rundbogen ihr wesentliches Stilelement. Kein anderer Stil von der karolingischen Baukunst bis in die Moderne findet in der Form des Kapitells eine so deutliche und eigenständige Ausprägung.
Das Würfelkapitell bildet den schlüssigen und organischen Übergang vom Runden der Säule zum Kantigen des Gebälks. In keiner anderen Epoche scheint uns dieser Übergang so bewusst gestaltet und so klar vor Augen geführt. Und in keiner anderen Epoche wird die Funktion des Übergangs in vergleichbarem Maß zu einem ästhetischen Moment – vergleichbar mit dem korinthischen Kapitell der Antike. Das Würfelkapitell ist mehr als ein Stilelement. Es ist ein Ausdruckselement und bestimmt wie der Rundbogen die Physiognomie romanischer Erscheinungsbilder.
Innerhalb der Romanik durchläuft das Würfelkapitell eine eigene Entwicklung. In der frühen ottonischen Zeit erscheint es einfach und klar, als ein Prinzip, das man nicht verbessern kann. Die späteren Jahrhunderte haben dieses Prinzip als Grundlage und Grundform reicher Ornamentierung benutzt. Sie haben das Würfelkapitell nicht weiterentwickelt, sie haben es umfunktioniert. Als Übergang vom Runden zum Kantigen dient das Würfelkapitell ursprünglich dem organischen Ganzen des Baukörpers. Wie ein Gelenk fördert es seine „Körpersprache“. Es geht nicht vollständig im Ganzen auf, sondern behält sein Gesicht, immer jedoch als Teil des Ganzen. Die Ornamentierung entkoppelt diesen Bezug. Das Kapitell wird zum Mikrokosmos. In seiner prächtigen Ausgestaltung ist es nicht mehr Teil des Ganzen, sondern Teil innerhalb des Ganzen – ein Wahrnehmungsangebot sui generis.
Mit dieser Umfunktionierung geht eine zweite Funktionsverlagerung einher. Vor dem Hintergrund, dass die Romanik das Prinzip der Reihung in hohem Maß kultiviert hat, indem doppelte Rundbogen sowie Rundbogen-Arkaden den Ausdruck der Architektur steigern, schert das Würfelkapitell aus dieser Ethik des Gleichmaßes aus. Der Takt gleichmäßiger Säulenreihen wird zu einem Reigen individueller Ausdrucksformen. Das Ganze des Baukörpers, das sich bisher auf die dienende Unterstützung des Würfelkapitells verlässt, kippt nun um in eine neue Bestimmung. Es droht zur Folie oder zum Träger autonomer Wahrnehmungsangebote zu werden, zu einer Art Bildergalerie. Die Säulenarkaden eines Kirchenschiffs, die Säulenhalle einer Krypta geraten zu einem Parcours bildnerischer Vielfalt, denn kein Kapitell ist wie das andere. Die entgrenzte Phantasie verlässt sogar das Prinzip des Kapitellwürfels und steigert sich in pflanzliche Formen, als würden im Rahmen einer Protorenaissance Erinnerungen an das Korinthische Kapitell wirksam. Der Kunstschaffende der Romanik setzt der Strenge eines gegebenen Formenkanons seine ungezügelte Kreativität entgegen. Das Kapitell dient ihm dazu als Ventil.
In dreifacher Weise erscheint uns die Romanik einzigartig. Zum ersten hat keine andere Epoche auch nur entfernt eine vergleichbare schöpferische Vielfalt auf die Gestaltung ihrer Kapitelle verwandt. Gotische Formensprache, so reich sie entwickelt ist, fügt sich bedingungslos in den Makrokosmos des Ganzen, so dass das Kapitell erheblich an Bedeutung verliert. Renaissance und Barock beschränken sich auf das Zitieren antiker Kapitelle, von Klassizismus und Historismus ganz zu schweigen. Zum zweiten hat das Würfelkapitell als Übergang, als Verbindungsform, die Funktion eines Kapitells geradezu neu erfunden. In keiner anderen Epoche kommt dem Kapitell eine ähnliche strukturelle Bedeutung zu. Und zum dritten trifft auch das genaue Gegenteil zu. Denn in keiner anderen Epoche folgen völlige Integration und absolute Desintegration so gegensätzlich aufeinander. Nur die Romanik kennt die Verselbständigung des Kapitells als visuelle Einheit, als Ablösung des Glieds eines Baukörpers und als Etablierung eines eigengesetzlichen Bildwerks. Der Bestandteil eines Werks wird selbst ein Werk.